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Interview mit IHKN-Präsident Andreas Kirschenmann zum Ende seiner IHKN-Präsidentschaft

Interview mit IHKN-Präsident Andreas Kirschenmann zum Ende seiner IHKN-Präsidentschaft

Herr Kirschenmann, Sie waren ein Jahr lang Präsident der IHK Niedersachsen. Wie war diese Zeit im Rückblick?

Meine Amtszeit wurde überschattet von den beiden größten Krisen, die dieses Land seit 1945 erlebt hat, die Coronapandemie und die Energiekrise. Die IHK-Organisation ist deshalb gefordert wie niemals zuvor, unsere Mitgliedsunternehmen bei der Krisenbewältigung zu unterstützen. Als Präsident sehe ich mich hier in einer besonderen persönlichen Verantwortung.

Meine Aufgabe ist es, die Interessen der Unternehmerinnen und Unternehmer zu vertreten und die wirtschaftliche Zukunft unserer Region zu fördern. Als absolut wichtig empfinde ich den Austausch mit Politikerinnen und Politikern, die Verantwortung für unser Land tragen, wie zum Beispiel Stephan Weil oder Olaf Lies.

Ich habe in diesem Jahr als Präsident der IHK Niedersachsen und in den vier Jahren meiner Amtszeit als Präsident der IHK Lüneburg-Wolfsburg viele Gespräche in Hannover und Berlin zu den unterschiedlichsten Themen geführt. Mir ging es dabei immer darum, dass die Politik die Situation unserer Unternehmen versteht und möglichst schnell, effektiv und unbürokratisch handelt. Besonders das Thema Beschleunigung liegt mir am Herzen. Wir sind einfach zu langsam und kleben als Gesellschaft auf der Stelle fest. Das betrifft viele Themen, mit denen wir als IHK zu tun haben – angefangen von dem Ausbau der Infrastruktur über die Digitalisierung oder die Sicherung der Energieversorgung.

Was genau fordern Sie in den Gesprächen mit der Politik?

Wir haben hier kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem. Warum glauben wir eigentlich, wir müssten alles regeln und die Freiheit von Unternehmen, Bürgern und Bürgerinnen sowie übrigens auch der Verwaltungen immer mehr einschränken? Was dabei rauskommt, ist immer mehr Bewegungsunfähigkeit. Das ist ein internationaler Wettbewerbsnachteil, der unseren Wohlstand gefährdet. Aber auch in der Gesellschaft brauchen wir ein Umdenken in Richtung des Gemeininteresses und weg vom Individualinteresse – zum Beispiel, wenn es um wichtige Projekte wie den Ausbau der Infrastruktur bei Verkehr und Energie geht.

Ich denke, wir brauchen ein neues gesellschaftliches Bewusstsein für die großen Infrastrukturprojekte. Wollen wir Verkehre von der Straße auf die Schiene bringen, müssen wir eben die Bahn ausbauen. Dafür braucht es mehr Schienen und Züge.

Ich bin erst kürzlich mit dem ICE von Köln nach Hamburg gefahren und habe mich mit einer jungen Mitreisenden unterhalten, die ihr Auto verkauft hatte, um auf die Bahn zu setzen und ihren Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Nach sechs Monaten hat sie sich frustriert wieder ein Auto gekauft. Wenn wir wollen, dass die Menschen ihr Verhalten umstellen, muss es funktionierende Systeme als Alternative geben. Es kann doch auch nicht sein, dass Projekte von nationaler Bedeutung immer wieder durch die Intervention Einzelner oder von Verbänden ausgebremst werden. Vielmehr kommt es darauf an, die schweigende Mehrheit, die es für viele Projekte gibt, zu mobilisieren und den Nutzen herauszustellen.

Auch die Bürokratie ist ein Bremsklotz. Jede Regierung hat sich das Thema Bürokratieabbau auf die Fahnen geschrieben, aber letztlich nehmen die Bürokratielasten für Unternehmen und Bürger sowie Bürgerinnen von Jahr zu Jahr zu. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sind diese Lasten sowohl für die Unternehmen als auch für die Verwaltungen gewachsen. Wir brauchen also ein radikales Aufräumen bei Gesetzen und Verordnungen, weg von der Regelungsillusion, die immer tiefer auf jedes noch so geringe Risiko fokussiert, hin zu einer Kultur von Mut bei Entscheidungen.

Vielleicht denken wir auch einmal darüber nach, was mit unserem Land passiert, wenn es wieder vorangehen soll und welche Effekte das auf die Zukunft der nachfolgenden Generationen haben soll. Kein Unternehmen kann die Freiheitsgrade der operativen Einheiten derart einschränken, wie es der Staat macht. Die Entscheider vor Ort brauchen mehr Ermessensspielräume, denn oft passen die anzuwendenden Regeln gar nicht richtig auf das konkrete Problem. In Niedersachsen haben wir ja mit dem LNG-Terminal in Wilhelmshaven gerade gezeigt, dass es auch schnell gehen kann, wenn es wirklich darauf ankommt.

Im Bund hat es das Thema „schneller werden” ja immerhin in den Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung geschafft. Es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung die Kraft für wirkliche Veränderungen aufbringt.

In welchen Bereichen drückt Niedersachsen aufs Tempo?

Ich beschränke mich mal auf zwei Punkte: Mit der Clearingstelle des Landes Niedersachsen haben wir mit der IHK Niedersachen als Trägerin eine Instanz eingerichtet, die dem Mittelstand bei Rechtsetzungsverfahren frühzeitig eine Stimme gibt und Bürokratiebelastungen und Alternativregelungen aufzeigt. Wir freuen uns, dass auch die neue Landesregierung an der Clearingstelle festhält.

Schneller werden – das verspricht auch eines der bedeutendsten Verkehrsprojekte in der Region Lüneburg-Wolfsburg: die A 39. Diese Autobahn ist für die wirtschaftliche Zukunft der Region überaus bedeutend. Die neue niedersächsische Landesregierung signalisiert dem Bund klar Unterstützung für den Autobahn-Lückenschluss. Das ist ein wichtiges Zeichen und schafft Wachstum und Zukunft für die ganze Region. Es wäre nicht gut, wenn wir bei wichtigen Infrastrukturprojekten – ob bei der A 39, der A 20 oder beim Bahnausbau zwischen Hamburg und Hannover oder Hannover und Bielefeld – immer wieder von vorne anfangen zu diskutieren.

Wo sehen Sie noch dringenden Handlungsbedarf?

Wir brauchen zusätzlich mehr Tempo beim Gigabitausbau, beim Ausbau des 5G-Netzes bis hin zur digitalen Ausstattung der Schulen. Ebenfalls weit oben auf die Agenda gehört die Digitalisierung und Beschleunigung von Verwaltungsleistungen. Das enorme Entlastungs- und Modernisierungspotenzial, das digitale Angebote und Lösungen für Gesetzgebung und Verwaltung eröffnet, wird bislang nicht ausreichend genutzt.

Stichwort Digitalisierung: Welche Projekte sehen Sie in Niedersachsen als vorrangig an?

Niedersachsens Unternehmen benötigen einen Digitalisierungs-Schub! Die Voraussetzung dafür ist eine moderne digitale Infrastruktur. Gigabitanbindungen sind eine elementare Voraussetzung für langfristige Wettbewerbsfähigkeit. Zwar fördern Bund und Land den Breitbandausbau seit Jahren massiv, doch die Kommunen müssen neben der erforderlichen personellen Ausstattung immer auch einen erheblichen Eigenanteil tragen. Wir fordern das Land Niedersachsen auf, bei der „Graue Flecken“-Förderung deutlich mehr eigenes Geld in die Hand zu nehmen.

Ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen ist auch das Thema Fachkräftesicherung. Wie unterstützen die IHKs in Niedersachsen?

Wer seine Belegschaft zukunftsfest aufstellen will, sollte selbst ausbilden und schon früh den Kontakt zu potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern suchen. Die niedersächsischen IHKs unterstützen dabei mit einer Reihe von Angeboten an der Schnittstelle von Schule und Wirtschaft.

Auf europäischer Ebene beneidet man uns immer noch wegen unseres dualen Berufsbildungssystems. Während wir jedoch stagnieren, holen andere europäische Länder stark auf. Wenn wir die berufliche Bildung stärken, stärken wir die Zukunftschancen junger Menschen und die Fachkräftesicherung für Unternehmen. Der Fachkräftemangel war schon vor der Corona-Krise ein gravierendes Problem für die niedersächsische Wirtschaft, durch die Pandemie hat sich die Lage nochmal deutlich verschärft. Radikales Umdenken brauchen wir auch bei der Fachkräftezuwanderung. Die Hürden und auch die Bürokratielasten sind hier einfach zu hoch. Aktuell fehlen zum Beispiel in Deutschland 80.000 bis 100.000 Lkw-Fahrer. Bewerber aus nicht EU-Staaten bekommt man mit der derzeitigen Rechtslage kaum in den Job. Da haben wir das völlig falsche Mindset mit den aktuellen Regelungen.

Momentan drücken vor allem die Energiepreise auf die Stimmung in der Wirtschaft. Wie bewerten Sie die aktuelle Lage?

Die Wirtschaft steht zur Zeit vor der herausfordernden Aufgabe, eine multiple Krisensituation zu meistern. Unternehmen brauchen deshalb mehr denn je die Unterstützung der Politik. Grundsätzlich begrüßen wir die Entscheidung, dass die Bundesregierung die Empfehlungen der Expertenkommission Gas und Wärme umsetzt. Damit bekommen Unternehmen ab dem 1. Januar 2023 endlich Klarheit über den Gas- und Wärmepreis. Positiv ist, dass die Bundesregierung bereits eine Verlängerung der Gaspreisbremse über Dezember 2023 beziehungsweise April 2024 hinaus vorsieht. Dies ist ein wichtiges Signal an die Unternehmen, die dringend Planungssicherheit brauchen.

Problematisch sind aus Sicht der Wirtschaft die zahlreichen Meldepflichten, die bereits ab einem Entlastungsbetrag von 100.000 Euro greifen. Angesichts der energiewirtschaftlichen Krise gilt es, zusätzliche bürokratische Anforderungen abzuwenden. Daher hätten wir uns hier höhere Schwellenwerte gewünscht. Kritisch sehen wir auch, dass der beihilferechtliche Rahmen, mit dem die EU-Kommission der Gewährung staatlicher Hilfen Grenzen setzt, den Entlastungsspielraum für den Preisdeckel bei höheren Beträgen einengt.

Problematisch ist auch die geplante Standortgarantie: Unternehmen müssen 90 Prozente der Arbeitsplätze bis zum 30. April 2025 erhalten oder entsprechende Vereinbarungen mit den Tarifparteien treffen, wenn sie mehr als zwei Millionen Euro aus den Regelungen zu den Preisbremsen erhalten. Wenn sie gegen diese Regelung verstoßen, müssen sie die Hilfen zurückzahlen. Ein Prozedere, das an der Praxis vorbeigeht. Eine weitgehende Beschäftigungsgarantie bei ansonsten drohender Rückzahlungspflicht ist in ohnehin wirtschaftlich angespannten Zeiten ein unnötiges Geschäftsrisiko.

WEWRedakteur

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